Berufsbilder im Wandel / Risiken und Gefahren maschineller Sprachübertragung / Markt- und Arbeitsbedingungen ausschlaggebend
Berlin, 8. Juni 2023 – In Meldungen zu „sensationellen“ neuen technischen, digitalen Möglichkeiten – besser: zu ihrer kontinuierlichen Weiterentwicklung – wird mit schöner Regelmäßigkeit meist von Branchenfremden das nahende Aus für die Berufe der Sprachübertragung wie das schriftliche Übersetzen und das mündliche Dolmetschen vorhergesagt. Dabei wird gerne ausgeblendet, dass technologische Entwicklungen den Berufsstand von jeher begleitet haben und dieser schon immer technische Werkzeuge sinnvoll genutzt und in die jeweiligen Arbeitsprozesse eingebunden hat.
Veränderte und neue Berufsbilder
Mit der fortschreitenden Digitalisierung und der Entwicklung von durch sogenannte „Künstliche Intelligenz“ unterstützten Anwendungen entstehen vielfältige neue Berufsbilder, die mit einer zunehmenden Erweiterung des Leistungsangebots einhergehen. So können entsprechend ausgebildete Übersetzer und Dolmetscher auch für die umfassenden Aufgaben der Umsetzung mehrsprachiger Projekte sowie zum Einsatz digitaler Arbeitswerkzeuge fundierte Expertise und Beratungskompetenz bereitstellen: Sie wissen, wie und wann für professionelle Anwendungen entwickelte Übersetzungssysteme ggf. unter Einbindung automatisierter Prozesse sinnvoll und effizient genutzt werden können und wo sich mögliche Fehlerquellen verstecken bzw. welche Tools beim Dolmetschen unterstützend eingesetzt und in welchen Situationen welche Technik unter welchen Voraussetzungen beispielsweise auch für digitalisierte Dolmetschprozesse (Remote- oder Ferndolmetschen) eingesetzt werden kann.
Maschinelle Sprachübertragung – nicht ohne den denkenden Menschen
Die Integration automatisierter – auch auf KI basierender – maschineller Übersetzungssysteme in den eigentlichen Übersetzungsprozess hat zweifelsohne zugenommen; angewandt, gesteuert und kontrolliert werden muss dies aber nach wie vor von Menschen, die den anspruchsvollen und kognitiv hochkomplexen Prozess der Sprach- und damit Kulturübertragung beherrschen.
Prinzipiell hat die Maschinelle Übersetzung (MÜ) deutliche Fortschritte gemacht und deren Ergebnisse sind heute dank riesiger digitaler Datenbestände, sprachregelbasierter Systeme und in der aktuellen Entwicklungsstufe auch auf Basis neuronaler Netze (allgemein vereinfachend „Künstliche Intelligenz“ genannt) sowie der Entwicklung großer Sprachmodelle (Large Language Models, LLMs) gerade in jüngster Zeit erheblich besser geworden. Aber genau hierin liegt auch das Problem: Die Übersetzungen klingen inzwischen sprachlich, also vor allem auch grammatikalisch, so „gut und stimmig“, dass sich inhaltliche oder terminologische Fehler, falsche Bezüge, fehlerhafte kontextuelle Zuordnungen oder gar Auslassungen nur schwer erkennen lassen, weil sie sich in dem flüssigen Text umso besser verstecken können. Dies macht das Nachbearbeiten maschinell vorübersetzter Texte oft zu einer ebenso anspruchsvollen und aufwendigen Tätigkeit wie das Übersetzen selbst, da neben einer extrem hohen Konzentration auch viel Fachkenntnis sowie das Wissen über die Funktionsweise der KI-Systeme erforderlich ist.
Grundsätzlich „versteht“ eine Maschine nicht, was mit einer Textsequenz gemeint ist, in welchem Kontext diese steht und bezieht auch nicht – wie der Mensch – unterschiedliche gesellschaftliche bzw. kulturelle Hintergründe mit ein, sondern errechnet lediglich anhand der Daten, mit denen sie „gefüttert“ bzw. trainiert wird, eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, wie diese bestimmte Textsequenz übersetzt werden könnte bzw. bei der Textgenerierung mit LLMs wie ChatGPT die Wahrscheinlichkeit, welches Wort als nächstes im Satz folgen könnte. Das erklärt auch, warum solche Programme zuweilen Inhalte frei erfinden („halluzinieren“), denn sie überprüfen dabei eben nicht den Wahrheitsgehalt.
Und: Je komplexer die zu übersetzenden Sätze, Textpassagen oder ganzen Texte sind, desto höher auch das Risiko, dass wichtige Elemente nicht korrekt übertragen werden oder gar verloren gehen. Textpassagen werden nach aktuellem Stand in der Regel als eine Aneinanderreihung von Sätzen betrachtet – ohne unbedingt einen Zusammenhang zwischen diesen herzustellen; damit potenzieren sich die genannten Ungenauigkeiten noch. Dies gilt erst recht für ganze, längere Texte.
Damit ist auch klar: Insbesondere im professionellen Kontext – wenn es also z. B. um rechtlich oder für die Gesundheit relevante bzw. geschäftskritische oder kreative Texte geht – sind definitiv qualifizierte Profis gefragt, die die Methodik und die Feinheiten des gesamten Übersetzungsprozesses in ihrer mehrjährigen Ausbildung, z. B. in einem Studium, verinnerlicht und mit ihrer Berufserfahrung gefestigt haben; die wissen, mit welchen Hilfsmitteln und Werkzeugen sie ihre Arbeit effizient gestalten und die besten Ergebnisse erzielen. Nur so können mögliche Risiken für Personen oder Sachschäden, abwendbare Mehrkosten (bspw. für Neuübersetzung/Neudruck) und nicht zuletzt gravierende Imageschäden vermieden werden.
Außersprachliche Risiken und Gefahren der KI
Aspekte, die bei dem Thema auch nicht außer Acht gelassen werden dürfen, sind der Datenschutz (für wen sind die in die Systeme eingespeisten Daten zugänglich, wer nutzt diese und wozu?), das Urheberrecht an den zum Training der maschinellen Systeme eingesetzten Texten sowie die Ethik – sowohl im Hinblick auf die berufsethischen Aspekte des Übersetzens und Dolmetschens selbst als auch bezüglich der eingesetzten Algorithmen. Durch KI wird eine neue Dimension des automatisierten Übersetzens erreicht. Algorithmen agieren allerdings mit eigener Logik, sind manipulierbar und unterliegen keiner ethischen Kontrolle. Gerade in sensiblen Bereichen wie z. B. Justiz, Gesundheit, Integration/Migration bietet die Integrität qualifizierter humaner Übersetzer und Dolmetscher nachhaltige Sicherheit – nicht zuletzt auch gegen die Gefahren von Cyberattacken und Manipulationsversuchen.
Gleiches gilt für das oben erwähnte „Halluzinieren“, d. h. das freie Erfinden von Fakten bis hin zu Werken oder gar Autoren. KI-Output in dieser Form ist nicht verlässlich, die Ergebnisse müssen sorgfältig geprüft und durch eigene Recherchen verifiziert werden. Dies ist ohne fachliche Kompetenz in vielen Fällen schlichtweg unmöglich, da die Systeme keine Quellenangaben liefern.
Ebenfalls kritisch zu betrachten ist, wenn in Gesprächen KI- bzw. MÜ-gestützte Apps anstelle von Dolmetschern eingesetzt werden sollen. Mündliche Kommunikation ist eine Handlung, zu der immer Mimik, Gestik, Betonung und Stimme gehören; das kann eine Maschine nicht erkennen und die Fehlerquote steigt somit. Für manche Standardsituationen, etwa das Einchecken im Hotel, mag das ausreichend sein, für anspruchsvollere Gesprächsanlässe reicht es nicht.
Seltene Sprachkombinationen und wirtschaftliche Interessen
Hinzu kommt, dass Übersetzungsautomaten und Apps überwiegend Sprachen bedienen, die von sehr vielen Menschen gesprochen werden bzw. international von wirtschaftlichem Wert sind. Die global ausgerichteten Software-Anbieter haben schon allein aus ökonomischen Gründen Sprachen von begrenzter Verbreitung kaum im Blick. Investitionen in die aufwendige Entwicklungsarbeit für diese „kleineren“ Sprachen lohnen sich für die IT-Riesen einfach nicht. Das hat zur Folge, dass für die meisten Sprachkombinationen, für die nur relativ wenig direktes zweisprachiges Datenmaterial zum Training des Übersetzungsprogramms digital verfügbar ist, die Anwendungen in der Regel Englisch als sogenannte Brückensprache nutzen, was – frei nach dem Prinzip „stille Post“ – zusätzliche Fehlerquellen birgt. Zwar gibt es erste Studien, nach denen mit Hilfe von LLMs diese Lücke bei wenig verbreiteten und Sprachen mit geringeren Trainingsdaten geschlossen werden könnte, doch hier sind noch viele Aspekte offen. Insbesondere bleibt die Frage, wer – aus welchem Interesse – die für solche Entwicklungen und Trainings erforderlichen Beträge in Millionenhöhe investiert.
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Zweifellos verändern die maschinellen Möglichkeiten zur Generierung von Übersetzungen (und Texten generell) Berufsbilder ebenso wie die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Ziemlich sicher wird beispielsweise die Zahl der „klassisch“ arbeitenden Übersetzer kurz- und mittelfristig zurückgehen. Meldungen, die rückläufige Beschäftigtenzahlen – wie kürzlich über die EU berichtet – jedoch ausschließlich mit dem verstärkten Einsatz maschineller Systeme oder dem vollständigen Ersatz der bisher in diesem Bereich arbeitenden Menschen begründen, stellen die Wirklichkeit allerdings einseitig bzw. (bewusst) verzerrt dar. Wie oben ausgeführt, müssen beispielsweise im professionellen Kontext – nicht nur bei der EU, sondern insgesamt für alle internationalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen – Übersetzungen korrekt und rechtssicher sein. Das können „unkontrollierte“ Maschinen nicht leisten; es werden nach wie vor fachlich kompetente Menschen gebraucht, die den Output der Maschinen prüfen, ggf. korrigieren und freigeben.
Der in diesen Meldungen genannte längerfristige Rückgang der angestellten Übersetzer bei den EU-Institutionen spiegelt auch nicht unbedingt eine generelle Verdrängung der Berufe durch KI wider, sondern dürfte zumindest zum Teil ein Zeichen für eine Verschiebung sein: Für einen Zeitraum von knapp 10 Jahren (2014–2023) werden laut einem Politico-Artikel1 insgesamt rund 400 weniger bei der EU festangestellte Übersetzer verzeichnet. Bei gleichzeitig (2013–2022) etwa 700 gemeldeten Neuanstellungen lässt sich schlussfolgern, dass der Rückgang nicht zwingend auf Entlassungen („Jobverlust wegen KI“) zurückzuführen sein muss, sondern insgesamt schlicht nicht alle – z. B. wegen Rente oder Jobwechsel – weggefallenen Stellen nachbesetzt wurden. Ursache dafür dürfte einerseits sein, dass vermehrt externe Dienstleister beauftragt werden. Zum anderen greift hier möglicherweise eine Entwicklung, die bspw. auch die im Bereich Übersetzen ausbildenden Hochschulen seit einigen Jahren vermelden: Durch die massiv sinkenden Zahlen der Absolventen in den jeweiligen Ausbildungsgängen ist – europaweit – in der Branche ein zunehmendes Nachwuchsproblem zu erkennen. Unter anderem weiß der BDÜ von seinen Kontakten zur EU-Generaldirektion Übersetzen (DGT), dass auch dort händeringend qualifizierter Nachwuchs gesucht wird.
Dieser Nachwuchs an qualifizierten Kräften wird auch in Zukunft gebraucht werden, da – darauf deuten auch die Zahlen zum wachsenden Übersetzungsvolumen bei der EU hin – der Gesamtbedarf an Sprachdienstleistungen immer weiter zunimmt. Am Einsatz maschineller Unterstützungssysteme, die Fachübersetzern effizienteres Arbeiten ermöglichen, führt allerdings kein Weg vorbei, um diese zunehmenden Mengen an zu bearbeitenden Übersetzungen sowohl in zeitlich vertretbarem als auch finanziell möglichem Rahmen abzudecken. Dies betrifft nicht nur die EU; aufgrund von Globalisierung und Digitalisierung wächst der Gesamtmarkt für Übersetzungs- und Dolmetschleistungen auch allgemein und weltweit – und somit auch für das stark exportorientierte Deutschland – kontinuierlich2.
BDÜ fordert den anspruchsvollen Tätigkeiten und Leistungen entsprechende Rahmen- und Arbeitsbedingungen
Der BDÜ sieht als Berufs- und Fachverband daher auch weniger die professionelle Nutzung von technischen Werkzeugen wie CAT-Tools (Computer-Aided Translation) bzw. die Integration von maschinellen (KI-basierten) Übersetzungsprogrammen als kritisch an, sondern die sich daraus für qualifizierte Fachübersetzer ergebenden Rahmen- und Marktbedingungen, die sich sowohl aufgrund der zunehmenden Komplexität der – mit maschineller Unterstützung bearbeiteten – Aufgaben als auch durch die Bedrohung des in diesem Bereich etablierten Arbeitsmodells des freiberuflichen Einzel-Selbstständigen massiv verändern. Daher fordert der Verband nicht nur von Wirtschaft und Industrie, sondern nicht zuletzt auch von öffentlichen Institutionen und der Politik, für verlässliche und tragbare, an der Berufsrealität ausgerichtete faire Arbeitsbedingungen und eine angemessene Vergütung der hochanspruchsvollen Leistungen zu sorgen. Dies gilt nicht nur für Angestellte; die marktwirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen müssen angesichts der nachweislich zunehmenden externen Auftragsvergabe gerade auch selbstständiges Unternehmertum zu auskömmlichen Bedingungen ermöglichen.
2 Vgl. dazu z. B.: https://slator.com/slators-analysis-global-language-industry-grew-4-percent-2022
Über den Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer e.V. (BDÜ)
Der BDÜ ist mit mehr als 7.500 Mitgliedern der größte deutsche Berufsverband der Branche. Er repräsentiert etwa 80 Prozent aller organisierten Dolmetscher und Übersetzer in Deutschland und setzt sich seit 1955 für die Interessen seiner Mitglieder sowie des gesamten Berufsstands ein. Eine BDÜ-Mitgliedschaft stellt ein Qualitätssiegel für professionelle Leistungen im Übersetzen und Dolmetschen dar, da eine Aufnahme in den Verband nur mit entsprechender fachlicher Qualifikation möglich ist. Die als Kommunikationsexperten bundesweit für rund 90 Sprachen und eine Vielzahl von Fachgebieten gefragten BDÜ-Mitglieder sind in der Online-Datenbank auf der Verbandswebsite schnell und einfach zu finden.