Selbstständige Übersetzer über Bord?
"Brandbrief" von FIT Europe an die Abgeordneten der EU

Bild: Romolo Tavani – AdobeStock

Das Bekenntnis zur Vielfalt, die sich unter anderem in 24 Amts- sowie über 60 Regional- und Minderheitssprachen ausdrückt, gehört zu den Grundprinzipen der Europäischen Union, Mehrsprachigkeit ist in der Charta der EU-Grundrechte verankert. Seit Gründung der Gemeinschaft sind Übersetzer und Dolmetscher elementar daran beteiligt, diese Vision der Vielfalt auf- und auszubauen. In einem 7-seitigen "Brandbrief" an alle Abgeordneten des Europäischen Parlaments warnt jetzt das europäische Regionalzentrum des Weltdachverbands der Übersetzer und Dolmetscher FIT Europe vor Entwicklungen, die diese Grundpfeiler der Vielfalt-Strategie zum Bröckeln bringen könnten. Denn diese – in großem Maß freiberuflich arbeitenden – Dienstleister sehen sich zunehmend in einer prekären Lage.

"Wir wenden uns an Sie, um die Sorgen von Freiberuflern in der gesamten Übersetzungs- und Dolmetschbranche angesichts der jüngsten kommerziellen und industriellen Entwicklungen in den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI), Plattformarbeit, Fair Work und Kollektivverhandlungen vorzutragen und darzulegen, wie die EU aus unserer Sicht reagieren kann und sollte", so die einleitenden Worte des Schreibens.

Verfasst ist der Brief von der Arbeitsgruppe "Advocacy" der FIT Europe, die nach Vorstellung der Ergebnisse der diesjährigen ELIS-Umfrage (European Language Industry Survey) ins Leben gerufen wurde und die sich aus 9 freiberuflichen Übersetzern und Dolmetschern aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten formiert hat. FIT Europe repräsentiert als europäisches Regionalzentrum des Weltdachverbands rund 40.000 Mitglieder von 77 Berufsverbänden (darunter auch der BDÜ) in 33 europäischen Ländern und damit schätzungsweise derzeit ein Viertel der freiberuflich tätigen Sprachdienstleister in Europa (letzte Eurostat-Angabe 2018: 180.000). Die seit dem Jahr 2013 jährlich europaweit durchgeführte ELIS-Umfrage, die u.a. von FIT Europe, dem europäischen Masterprogramm-Netzwerk European Master's in Translation, der European Commission's Language Industry Platform (LIND) sowie verschiedenen Branchenverbänden getragen wird, richtet sich in jeweils spezifischen Fragepaketen an Sprachdienstleistungsunternehmen, Freiberufler, Studierende und Ausbildungseinrichtungen.

Im Wesentlichen umreißt der Brief das Stimmungsbild aus der diesjährigen Umfrage für die Abgeordneten so: Durch den zunehmenden unregulierte Einsatz maschineller Übersetzung in den letzten Jahren ist in der gesamten Branche eine "Ubersierung" festzustellen: eine deutliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen mit massiven Einkommensrückgängen und wachsendem Druck, einhergehend mit abnehmender Qualität der Übersetzungen, einer Aushöhlung der Qualifikationsanforderungen, Abwanderung von Fachkräften und damit verbunden einem Verlust an Wissen und Kompetenzen. Erschreckend insbesondere: War selbst in den Umfragen der Corona-Zeit durchweg immer noch Zuversicht für einen Verbleib in den Berufen und der Selbstständigkeit spürbar, so stellen jetzt immer mehr qualifizierte Fachkräfte ihre Zukunft in der Branche insgesamt in Frage – und viele wandern bereits ab. Nachwuchs ist dagegen immer weniger in Sicht, denn die Ausbildungseinrichtungen verzeichnen – bedingt durch die unsicheren Perspektiven und dem massiven Imageverlust der Berufe durch den KI-Hype – kontinuierlich sinkende Studierendenzahlen.

Ein sich so abzeichnender Rückgang bzw. Verlust an qualifizierten Fachkräften wäre allerdings für das Credo der Mehrsprachigkeit Europas und ganz speziell für die Einrichtungen der Europäischen Union fatal. Denn bei aller Entlastung, die der inzwischen in den Institutionen zur Unterstützung der Fachkräfte etablierte Einsatz maschineller Übersetzungssysteme den Einrichtungen bringt: Der Bedarf an Übersetzungsleistungen der Europäischen Kommission steigt kontinuierlich – von 2013 bis 2022 berichtet das Schreiben von einem Anstieg der übersetzten Dokumente von 28,3%. Dem gegenüber steht eine Reduzierung der fest angestellten Übersetzer der Generaldirektion Übersetzung (DGT) von rund 2.450 im Jahr 2013 auf rund 2.000 im Jahr 2023 – mit dem Ergebnis, dass mehr und mehr Aufträge zur Bearbeitung nach extern vergeben werden: von 26% des Gesamtarbeitsvolumens der DGT im Jahr 2013 auf 36% im ersten Quartal 2023.


Freiberufler am kürzeren Hebel

Aufgrund der Vergabepraxis der EU kommt dieser Anstieg nun allerdings in erster Linie externen Übersetzungsunternehmen zugute: Der größte Teil der Auftragsvergabe durch die EU-Institutionen erfolgt über Ausschreibungen, bei denen fast ausnahmslos Vermittler – in der Regel große Sprachdienstleister – den Zuschlag erhalten (denen es, so das Anschreiben, wiederum freistehe, ihren Unterauftragnehmern, d. h. den Freiberuflern, ihre Bedingungen aufzuerlegen). Zwar können gemäß dem Schreiben grundsätzlich auch einzelne Freiberufler an Ausschreibungen teilnehmen – jedoch an nicht mehr als einer. Und einzelne Freiberufler dürfen auch nicht gleichzeitig für mehrere EU-Institution arbeiten.

Der größte Knackpunkt allerdings wird deutlich mit Blick auf die im Schreiben detaillierte Entwicklung der Honorare für die ausgeschriebenen Leistungen: Bei der jüngsten Ausschreibung der DGT (TRAD23) wurden 50 Lose vergeben, mit geschätzten Umfängen zwischen 1.000 und 65.000 zu übersetzenden Seiten pro Jahr. Die durchschnittlichen Kosten pro Seite für die Übersetzung durch die internen Abteilungen beziffert das Schreiben mit 150 € beim bei Parlament und Kommission sowie 254 € beim EU-Rat – im Jahr 2003. Zwanzig Jahre später sind es 65-12,50 Euro, die als Honorare für die TRAD23-Lose gezahlt werden – wohlgemerkt: in der Regel an Vermittler-Unternehmen. Dass die EU künftig bei all ihren Ausschreibungen bitte Anforderungen für faire Behandlung und Entlohnung der Freiberufler einschließen möge, ist da eine geradezu zwingende Forderung – die letztlich unter dem Stichwort FairWork in ein Gesamtpaket an gewünschten Maßnahmen zur Förderung der Selbstständigkeit eingeht, bei dem es neben fairen Arbeitsbedingungen, Honoraren und Wertschätzung für hochwertige Arbeit auch um angemessene Möglichkeiten zur sozialer Absicherung geht.


Profite aus Urheberrechtsverletzungen bekämpfen

Angesichts Auswirkungen des KI-Hype machen die Verfasser des Briefes noch einmal deutlich, dass die großen Sprachmodelle, aus denen die Technologiekonzerne jetzt ihren Profit ziehen, auf der Grundlage von Übersetzungen trainiert wurden, die als Originalwerke durch die Berner Konvention geschützt sind. Hier geht die Forderung nach fairer Entlohnung für die Nutzung von urheberrechtlich geschütztem Material und einem Verbot zur Nutzung solchen Materials ohne Einwilligung.

Mit Blick auf die derzeitigen Konsolidierungsaktivitäten in der Branche wird zudem das Risiko der Entstehung von Monopolen auf solche KI-Systeme thematisiert – und das zunehmende Ungleichgewicht zwischen den Beteiligten, das entsteht, wenn sich die Vermittler-Unternehmen zu immer größeren Einheiten zusammenschließen: Es müsse sichergestellt werden, dass sich Freiberufler, die auf ihre Rechte pochen, sich nicht allein in einem ungleichen Kampf mit "Big Tech" gegenübersehen.

Kritisch verwiesen wird im Anschreiben schließlich auch auf Gefahren des unkontrollierten und unregulierten Einsatzes von KI, etwa das durch den sogenannten KI-Bias entstehende Diskriminierungspotenzial oder Risiken durch die Verwendung hegemonialer Sprachen als Brückensprachen zum Nachteil von Minderheitensprachen etc. Entsprechend fordern die Autoren des Schreibens, dass LLMs, die zum Training von Sprach-, Übersetzungs- und Dolmetschlösungen eingesetzt werden, höchsten Transparenzkriterien unterliegen müssen und in die Kategorie "high-risk" eingestuft werden. Die "Blackbox" der Systeme müsse aufgebrochen werden, indem Unternehmen verpflichtet werden, detaillierte Informationen über die für das Training genutzten Datenquellen offenzulegen.


Richtlinie zur Plattformarbeit: Bedenken hinsichtlich der Umsetzung im Detail

Im Hinblick auf die neue EU-Richtlinie zur Plattformarbeit verweisen die Autoren des Schreibens darauf, dass Plattformen in der Sprachdienstleistungsbranche häufig mit intransparenten bzw. niedrigen Zulassungskriterien und zum Teil mit irreführenden Zertifikaten als Qualifikationsnachweise arbeiten. Kritisiert werden auch Vergabetechniken nach dem Windhundverfahren oder im Auktionsmodus, die zu einer Abwärtsspirale bei Qualität und Honoraren führen und von denen lediglich die Plattform profitiert. Hier stehen faire Arbeitsbedingungen und Bezahlung ebenso als Forderung im Raum wie der Verweis auf das immer weiter auseinander driftende Machtgefüge zwischen den Plattformen und Solo-Selbstständigen mit ihrer nur sehr geringen Verhandlungsmacht. Letztlich werfen die Autoren auch die Frage auf, wie das von der Kommission vorgeschlagene Kontrollkriterium hinsichtlich nicht standardisierter Beschäftigungsformen oder Plattformarbeit, nämlich die "eingeschränkte Möglichkeit, für einen Dritten zu arbeiten", mit den Vorgaben der EU zusammenpasst, wonach Freiberufler jeweils nur an einer Ausschreibung teilnehmen und nicht für mehrere EU-Institutionen gleichzeitig arbeiten dürfen.


Kollektiverhandlungen: Rechte von Verbänden stärken!

Mit der Annahme der Leitlinien für Kollektiverhandlungen (collective bargaining) im Jahr 2022 hat die Europäische Kommission den Weg dafür frei gemacht, dass sich freiberufliche Einzel-Übersetzer und -Dolmetscher zusammenzuschließen und gemeinsam über Tarifverträge bessere Arbeitsbedingungen aushandeln können, ohne gegen die EU-Wettbewerbsregeln zu verstoßen. Ein erster richtungsweisender Tarifvertrag nach diesem Muster wurde im April 2023 für die in der audiovisuellen Übersetzung tätigen Freiberufler in Finnland unterzeichnet. Da die Umsetzung der Leitlinien jedoch in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt, ist aus Sicht der FIT-Arbeitsgruppe eine weitere Konkretisierung von Mindestanforderungen (Arbeitsbedingungen, faires Aushandeln von Honoraren, ein Verbot einseitiger Änderungen sowie die Anpassung der Honorare an die Inflationsrate, pünktliche Zahlung, Festschreibung von Mindesqualifikationen für die Ausübung der Tätigkeit) erforderlich. Nicht zuletzt bringt die Arbeitsgruppe die Frage nach Tarifempfehlungen durch Berufsverbände ins Spiel – und erbittet klare Aussagen über die Möglichkeit für Verbände, für ihre Mitglieder in Tarifverhandlungen zu treten und so eine aktive Rolle bei der Gestaltung fairer Honorare und Arbeitsbedingungen für alle Beteiligten der Wertschöpfungskette im Bereich von Übersetzungs- und Dolmetschleistungen übernehmen zu können.

Abschließend betonen die Autoren noch einmal die wichtige Rolle von Übersetzern und Dolmetschern für ein Europa der Mehrsprachigkeit und sprachlichen Vielfalt – und ihre Überzeugung, dass es der Mensch ist, der aus den Leistungen der KI den echten Mehrwert macht.

Bleibt zu wünschen, dass die Hoffnung der Autoren, mit ihrem Appell einen faireren Dialog – sowohl auf Ebene der Mitgliedsstaaten als auch auf Ebene der EU – anzustoßen, der Übersetzern und Dolmetschern gleichermaßen in ihren Belangen als Menschen und Arbeitskräfte gerecht wird, in den Reihen der Abgeordneten zumindest auf einige offene Ohren stößt.

Wer den Brief im vollständigen Wortlaut studieren möchte, findet diesen hier.

Und wer als Übersetzer/-in oder Dolmetscher/-in den Appell der Initiatoren zum fairen Dialog aktiv unterstützen möchte, kann dies beispielsweise vor Ort durch Ansprache der Kandidaten tun, die sich bei der diesjährigen Europawahl am 9. Juni für einen der 96 deutschen Abgeordneten-Plätze im Europäischen Parlament bewerben. Jede Stimme zählt!

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