Gedanken zu Muttersprache(n), Mehrsprachigkeit und Dolmetschen
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Mehrsprachigkeit liegt als Stichwort beim Dolmetschen auf der Hand, aber wie sieht es beim Thema Muttersprache aus? In der Regel beherrschen wir kaum eine weitere Sprache in allen Facetten so wie die, mit der wir aufgewachsen sind. Der kompetente Umgang mit der Muttersprache ist somit der Ausgangspunkt zum Erwerb weiterer Sprachen und damit auch eine Grundvoraussetzung für qualifiziertes Dolmetschen. Darüber hinaus entscheidet die Beherrschung von Sprache – ob Muttersprache oder nicht – auch über soziale Teilhabe und Zugang zu Leistungen des Staates. Im Gesundheits- und im Gemeinwesen spielt das Dolmetschen also eine besondere Rolle, und hier nicht nur als Laut-, sondern auch als Gebärdensprache.
Was heißt eigentlich Muttersprache? Und welche Bedeutung hat sie beim Dolmetschen?
Birsen Acar (Serinkoz), BDÜ-Bundesreferentin Dolmetschen im Gesundheits- und im Gemeinwesen
Im Duden wird Muttersprache als die Sprache definiert, „die ein Mensch als Kind (von den Eltern) erlernt und primär im Sprachgebrauch hat“. Meist ist der Begriff jedoch weniger über den primären Gebrauch, sondern vielmehr über den Ursprung der Familie und damit auch deren geografische Herkunft geprägt. In Deutschland gibt es viele Menschen, die mit einer anderen Sprache aufwachsen als der, welche sie in der KiTa bzw. in der Schule lernen. Welches ist dann also ihre Muttersprache? Gibt es nur eine oder kann es mehrere Mutter-Sprachen geben? Während die individuellen Sprachbiografien zu selten Beachtung finden, wird Muttersprache im Kontext von Mehrsprachigkeit meist absolut verstanden und gleichgesetzt mit Nationalsprachen. Insofern wird Muttersprache als Begriff pauschalisierend angewandt, was zu einer strukturellen Differenzierung von Menschen führt: Weil vor allem in nationalstaatlichen Strukturen und damit in Nationalsprachen gedacht wird, finden Zuschreibungen statt, die nicht immer dem tatsächlichen Sprachprofil eines Menschen entsprechen. Wenn die Muttersprache nicht zufällig eine Nationalsprache ist, dann fällt man leicht durchs Raster. Denn die Entwicklung unterschiedlicher Sprachen in einer Region lässt sich nicht durch Grenzen bestimmen. Man denke dabei z. B. an Südosteuropa oder die Verbreitung des Kurdischen in vielen Ländern. Zu dem Thema empfiehlt sich auch ein Blick in die BDÜ-Broschüre „Staaten und ihre Sprachen“.
Sprache ist aber nicht nur strukturell differenzierend, sondern auch ein Merkmal persönlicher Identität. Aus der Migrationsforschung ist bekannt, dass Fremdheit dieses Gefühl der Identifizierung meist verstärkt. So entsteht aufgrund einer gemeinsamen Sprache ein Zugehörigkeitsgefühl, das zur Dolmetschressource (gemacht) wird. Diese Ressource wird in Praxen, Behörden, Beratungsstellen usw. genutzt, um dem mehrsprachigen Kommunikationsbedarf zu begegnen. Jedoch wird diese Arbeit nicht als Leistung anerkannt, da sie vor allem ehrenamtlich organisiert und auch als solche staatlich gefördert wird. Diese Problematik haben wir u. a. in unserem Positionspapier zum ehrenamtlichen Dolmetschen thematisiert.
Auch das Dolmetschen – sogar unter diesen Umständen – ist identitätsstiftend für mehrsprachige Menschen, was, wie einem weiteren BDÜ-Positionspapier dargestellt, strukturell ausgenutzt wird. Denn auftraggeberseitig wird meist nicht zwischen Mutter- bzw. Familiensprache(n) und professioneller Sprachkompetenz differenziert, die man zum qualifizierten Dolmetschen benötigt. Eine Sprache in der Familie gelernt zu haben, bedeutet jedoch noch nicht, dass diese Sprache systematisch und zum Zweck des Dolmetschens erlernt bzw. ausgebaut wurde. Auch wenn man bikulturell – wie ich z. B. in Deutschland und in der Türkei – aufwächst und beide Sprachen in der Schule lernt, gibt es Themen, die nur in der einen oder nur in der anderen Sprache „zu Hause“ sind. Genau diese gilt es für das Dolmetschen jeweils sprachlich-kulturell auszubauen, beispielsweise wie in meinen Fall durch ein einschlägiges Studium.
Der Tag der Muttersprache ist also ein Anlass zur Reflexion. Nicht nur im Umgang mit der eigenen Muttersprache bzw. dem eigenen Sprachprofil, sondern auch mit dem Sprachprofil anderer. Die Notwendigkeit dafür zeigt sich besonders in Kontexten, in denen Mehrsprachige ehrenamtlich zum Dolmetschen eingesetzt werden. Das muss immer kritisch hinterfragt werden. Zum einen, um solche Strukturen nicht zu unterstützen, und zum anderen, um die Professionalität bzw. Professionalisierung – und damit auch die angemessene Bezahlung – von Dolmetscherinnen und Dolmetschern in Praxen, Behörden, Beratungsstellen usw. voranzutreiben.
Wie sieht das beim Gebärdensprachdolmetschen aus? Sind die Rahmenbedingungen hier besser?
Kathleen Riegert, BDÜ-Bundesreferentin Gebärdensprachdolmetschen
Zunächst einmal zum Verständnis: Die Muttersprache der tauben Menschen in Deutschland ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die seit 2002 im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) als eigenständige Sprache anerkannt ist. Sie ist eine vollwertige, visuelle Sprache, mit eigener Grammatik. Die Anerkennung erfolgte in Deutschland eher spät im Vergleich zu anderen Ländern wie beispielsweise den USA. Auch das Europaparlament hatte bereits 1988 in einer Entschließung die EU-Staaten aufgerufen, die nationalen Gebärdensprachen anzuerkennen. Jedoch ist die DGS bis heute weder Amtssprache – dies ist ausschließlich Deutsch –, noch eine anerkannte Minderheitensprache nach deutschem Recht, wie dies bei Sorbisch oder Friesisch der Fall ist. Die Gemeinschaft der tauben Menschen fordert dies aber seit Langem, so auch wieder bei der Veranstaltung zum diesjährigen Tag der Muttersprache am 17. Februar 2024 in Kiel. Denn taube Menschen sind sowohl behindert nach deutschem Sozialrecht, aber eben auch eine sprachliche Minderheitengruppe.
Aufgrund des Status als Menschen mit Behinderung ergeben sich aus dem BGG und den Sozialgesetzbüchern Ansprüche auf die Verwendung von Deutscher Gebärdensprache im Kontakt mit öffentlichen Einrichtungen wie Behörden und Ämtern, der Justiz und eben auch im medizinischen Bereich. Seit 2001 können Gebärdensprachdolmetscher (GSD) z. B. beim Arzt oder im Krankenhaus hinzugezogen werden und die Kostenübernahme ist durch die Krankenkassen abgedeckt (§ 17 SGB I). Das Verfahren ist einfach und unbürokratisch und muss nicht beantragt werden. Geht eine taube Person mit einer Dolmetscherin bzw. einem Dolmetscher zum Arzt, wird diese Zeit bestätigt und die dolmetschende Person schreibt eine Rechnung an die zuständige Krankenkasse.
Gebärdensprachdolmetschen mit DGS kann in Deutschland an einer Reihe von Universitäten oder Fachhochschulen studiert werden. Auf der BDÜ-Website haben wir auch dazu eine Übersicht. Wer ein solches Studium absolviert hat, ist in allen Bereichen des menschlichen Daseins tätig und dolmetscht für die hörende Mehrheitsgesellschaft, die keine Gebärdensprache kann, was die tauben Menschen in ihrer Muttersprache sagen: Sie sind quasi Brückenbauer zwischen Sprachen und Kulturen und ihre Tätigkeit unterscheidet sich nicht vom Dolmetschen zwischen Lautsprachen.
Was hat Muttersprache mit Grundrechten und dem Zugang zu medizinischer Versorgung zu tun?
Elvira Iannone, Politische Geschäftsführung des BDÜ
Bei Menschen, die mit einer Fremdsprache aufgewachsen sind, ist der Anspruch auf Dolmetscher komplizierter, weil er in Deutschland – im Gegensatz zu anderen „Einwanderungsländern“ – nur für klar definierte Bereiche gilt: In bestimmten Situationen bei Gericht und Polizei besteht ein Anspruch auf die Hinzuziehung von Dolmetschern, wenn man (noch) nicht ausreichend Deutsch spricht. Auch im Asylverfahren beim BAMF werden Dolmetscher gestellt. Ganz anders sieht es jedoch in Praxen und Krankenhäusern oder bei anderen Behörden und in Beratungsstellen aus: Dort hängt es vom Goodwill und der aktuellen Finanzlage ab, ob und wie sprachlicher Zugang gewährt wird oder auch nicht. Der Zufall, wo man geboren und aufgewachsen ist, entscheidet also über die medizinische Versorgung, über Bearbeitungsdauer und Entscheidungen bei Ämtern oder über die Unterstützung in schwierigen Situationen.
Die Bundesregierung hat die langjährige, z. B. auch in einem Positionspapier von 2019 gestellte Forderung nicht nur des BDÜ, sondern auch der Bundesärztekammer, der Bundespsychotherapeutenkammer und anderer Akteure, an dieser Situation etwas grundlegend zu ändern, 2021 in ihrem Koalitionsvertrag auf Seite 84 festgeschrieben: „Sprachmittlung wird auch mit Hilfe digitaler Anwendungen im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des SGB V“. Gerade in einem so sensiblen Bereich wie Gesundheit bzw. Krankheit, der untrennbar mit dem eigenen Leben bzw. dem von Angehörigen und der damit einhergehenden Lebensqualität verknüpft ist, muss bisher jeder für sich schauen, wie er oder sie zurechtkommt. Dies soll sich ändern, auch wenn im Koalitionsvertrag nicht steht, wie.
Nach Aussage von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach soll diese Änderung des SGB V Bestandteil des als Versorgungspaket II bezeichneten Omnibusgesetzes werden. Noch liegt aber kein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) vor. Diese Legislaturperiode ist mittlerweile allerdings weit fortgeschritten, und die Zeit drängt, wenn dieses Koalitionsvorhaben durchdacht und ohne zeitliche Überschläge noch umgesetzt werden soll. Viele verschiedene Akteure haben dazu unterschiedliche Forderungen, angefangen bei „Dumpinghonoraren“, mit denen der Zugang zur Gesundheitsversorgung ähnlich prekär bleibt wie bisher, über eine Art „Pseudo-Qualifizierung“ bis hin zu Bürokratiemonstern. Der BDÜ hat sich intensiv und detailliert Gedanken zur Umsetzung des Koalitionsvorhabens gemacht und ein praktikables Modell dafür erarbeitet. Die Forderungen des BDÜ orientieren sich an bewährten Modellen und Prozessen, weil das Rad nicht neu erfunden werden muss: Qualifikationsanforderungen wie bei den Gebärdensprachdolmetschern (GSD) im Gesundheitswesen, Vergütung nach § 8 Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) wie bei den GSD im Gesundheitswesen, Prozesse und Abrechnung wie bei den GSD im Gesundheitswesen, Steuerfinanzierung statt Beitragserhöhung – weil Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Eine solche bundesweit einheitliche Regelung ist notwendig, damit Ärzte ihrem im Genfer Gelöbnis geschworenen Eid Folge leisten und das in Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz verankerte Recht auf Nichtdiskriminierung auch aufgrund von Sprache endlich Realität werden kann.